Keine Eile
Von der Wichtigkeit der Momente bewussten Anhaltens in dieser hektischen Zeit
Text: Jana Pajonk
Mein Leben fühlt sich an wie ein permanenter Dauerlauf. Ich weiß nicht genau, wann ich losgelaufen bin. Aber ich vermute, das war, als ich meine erste Festanstellung annahm. Seit damals habe ich das Gefühl, ständig zu spät dran zu sein. Es beginnt morgens, wenn der Wecker klingelt. Denn um wirklich entspannt in den Tag zu starten, müsste ich eine Stunde eher aufstehen. Doch das gelingt mir aufgrund der Erschöpfung vom Tag zuvor oft nicht. Also beginne ich den Tag schon mit einem Gefühl des Zeitdrucks, der beim Wecken meiner Tochter auch bei ihr anfängt zu wirken. Als sie noch in den Kindergarten ging, konnte sie nichts aus der Ruhe bringen. Inzwischen ist sie ein Teenager und fest in den hektischen Strukturen unserer Zeit angekommen.
Ja, unserer Zeit!
Denn wohin ich auch blicke, geht es den allermeisten Menschen genauso wie mir. Sie hetzen von einem Termin zum nächsten. Es ist schwer, sich mit Freunden zu verabreden, denn sie haben fast immer schon irgendetwas vor. Ihre Kalender sind so randvoll wie meiner. Die Tage, an denen nichts im Terminplaner steht, sind rar gesät und eigentlich auch nur deshalb leer, weil ich keine Zeit hatte, sie zu verplanen. Schließlich gibt es tausend Dinge, die ich in den letzten Tagen, Wochen und Monaten nicht erledigt habe. Und schon ist auch diese Lücke wieder gefüllt.
Die Zeit treibt uns vor sich her
Dass so ein Leben auf die Dauer nicht gesund sein kann, wird mir beim Schreiben wieder klar. Denn allein bei dem Gedanken an die vielen Termine und To-dos wird meine Atmung flach, der Adrenalinpegel steigt. Das nennt man Stress. Wer beim Dauerlauf nicht richtig atmet, bekommt Seitenstechen. Im Leben treten früher oder später Krankheiten auf. Denn unser Körper ist weise. Wenn wir es nicht schaffen, auf uns zu achten, zieht er die Reißleine. Vielleicht haben auch Sie schon die Erfahrung gemacht, dass Erkältungskrankheiten nicht nur Folge einer zufälligen Begegnung mit Krankheitserregern in der S-Bahn sind, sondern einen tieferen Sinn haben können. Es ist kein Wunder, wenn wir in unserem hektischen Alltag einfach mal „die Nase voll“ haben oder jemandem gern „etwas husten“ möchten. Und bevor der Körper zu drastischeren Maßnahmen greift, sollten wir lernen anzuhalten, innezuhalten und wieder tief durchzuatmen. Es sollte uns allen ein Bedürfnis sein. Und wir können uns in unterschiedlichen Techniken üben, um der Hektik zu entkommen.
Mut zur Lücke
Bevor es möglich ist, Kraft des eigenen Willens den alltäglichen Dauerlauf anzuhalten, müssen wir uns einige Dinge klarmachen. Allen voran die Tatsache, dass wir es niemals allen Menschen werden recht machen können, einschließlich uns selbst. Das ist eine schwere Einsicht, besonders für die vielen Perfektionisten unter uns. Den Mut, sich selbst und das, was man tut, auch unperfekt der Welt zu präsentieren, müssen wir immer wieder neu aufbringen. Doch auch hier gilt: Mut wird belohnt. Für mich war ein wahrhaftiges Sich-unperfekt-Zeigen niemals, wirklich nie, von Nachteil. Und jedes Mal, wenn wir eine solche Erfahrung machen dürfen, wird es ein Stück leichter, dazu zu stehen, was wir sind oder nicht sind, was wir können oder nicht können und was wir brauchen – oder eben gerade nicht. Wer sich diesen Erfahrungen hingibt, bereitet den Boden, auf dem erste Samen der Langsamkeit keimen können. „Wenn du es eilig hast, setze dich!“, besagt eine fernöstliche Weisheit. Und genau dann, wenn am allermeisten zu tun ist und man gar nicht weiß, wo man eigentlich anfangen soll, lohnt es sich, an diese Worte zu denken und sich von ihnen im wahrsten Sinne des Wortes entschleunigen zu lassen. Dann heißt es: Stecker ziehen, die Verbindungen kappen, die einen mit der inneren Rastlosigkeit verbinden. Man kann Termine absagen, denn heutzutage ist darüber kaum noch jemand böse, denn jeder freut sich über freiwerdende Zeiten im Kalender. Auch das Handy auszuschalten und den Computer herunterzufahren, hilft. Und allein die Tatsache, dass man sich der permanenten Erreichbarkeit bewusst entzieht, lässt den Stresspegel sinken. Es passiert auch nichts, wenn Sie mal die Wäsche Wäsche und den Abwasch Abwasch sein lassen. Legen Sie sich einfach auf den Boden, auf die Couch oder in die Wanne. Und atmen Sie … ein … aus … ein … aus … immer tiefer. So kommt Ruhe in unseren Organismus und das Gedankenkarussell im Kopf beginnt sich wie von selbst zu ordnen. Es gibt nichts zu tun. Einfach nur da sein und beobachten. Wie Sand, der im Meer aufgewirbelt war und sich langsam legt, zeichnen sich nach einer Weile Strukturen am geistigen Horizont ab. Die Sicht wird wieder klar. Und dann, nach einer Weile, die kurz oder auch länger sein kann, weiß man plötzlich ganz genau, welcher Schritt der nächste ist. Es ist einem im wahrsten Sinne des Wortes „eingefallen“.
Viele Wege führen zur Ruhe
Es gibt eine riesige Auswahl an Methoden, die einem helfen können, anzuhalten und in den Moment zu
kommen. Ob Meditation, Yoga, Qigong, Atemübungen, Singen, Malen, im Wald spazieren oder Tanzen. Man kann heute so vieles ausprobieren. Jeder Mensch hat zahlreiche Möglichkeiten herauszufinden, was ihm dabei hilft, den Dauerlauf anzuhalten und im Moment, bei sich anzukommen. Und wenn man seine Techniken gefunden hat, besteht die nächste Herausforderung darin zu lernen, regelmäßig Pausen einzulegen und nicht erst dann, wenn alles zu viel wird. Machen Sie sich noch heute auf die Suche nach Ihrem persönlichen Weg aus dem Stress. Die eigenen Kraftquellen zu kennen, ist eines der wichtigsten Dinge heutzutage. Denn dort tanken wir auf, schöpfen Kraft und Gesundheit. Im Hier und Jetzt ist alles leichter. Es wird klar, was wirklich wichtig und als Nächstes dran ist. Und vielleicht ist das ja einfach eine Pause.
Dieser Artikel erschien erstmalig im Sanitätshaus Aktuell Magazin, Ausgabe 4 | 2019